Gastronomie, Gesellschaft

Japans Esskultur Pt. 3

von Katharina Seiser

Land der aufgehenden Wonne: Was wir uns von der japanischen Ess- und Trinkkultur abschauen könnten – und was lieber nicht.


Illustration: Illustration: Katharina Anna Wieser/Bureau F

Gern mehr davon

Omakase

bedeutet so viel wie im Englischen „Chef’s Choice“ oder die auch bei uns manchmal verwendete „Carte blanche“. Der Begriff wurde hier vor allem für Sushi-Bars bekannt, gilt in Japan aber auch für andere Arten von Restaurants. Omakase meint, dem Küchenchef (es ist selten eine -chefin) ist überlassen, was und in welcher Reihenfolge er mir serviert. Üblicherweise ist es in Japan das Beste, Frischeste, was im Haus ist – Ehrensache. Der teuerste Cut vom Thunfisch, die beste Muschel, die tollsten Pilze. Und das, obwohl Omakase üblicherweise günstiger als eine Bestellung à la carte ist. Bezeichnend, dass es im Deutschen gar keine geläufige Formulierung dafür gibt. Anhand dieses schönen Worts lässt sich nämlich die grundlegend andere Philosophie von Gastronomie in Japan im Vergleich zu Europa oder den USA sehr gut beschreiben. In Japan vertraut man (sich) der Küche (an), begibt sich in die Hände jener Personen, die eine Stunde oder mehr für einen sorgen. Sie wissen, was sie heute eingekauft haben, was besonders frisch ist, gut zueinander passt, gut nacheinander passt, gut zum Gast/zur Gästin und deren Stimmung passt. Sie wissen dank ihrer langen Lehrjahre, wie man mit jedem einzelnen Lebensmittel gut umgeht, wie wenig es braucht, um perfekt zu schmecken. Es ist ein Tanz, bei dem der Küchenchef (schön wäre, wenn es öfter eine -chefin wäre) führt, aber der Gästin nie auf die Zehen steigt, sie gar nicht spürt, dass sie diesen Tanz vielleicht noch nie getanzt hat, sondern souverän begleitet wird und sich wohl und leicht und ja, oft auch enthusiasmiert fühlt von der Fülle der neuen Eindrücke, der zuvor ungekannten Choreografie.
Bei uns ist es üblich, dem Gast eine große Auswahl an Speisen zu bieten und dass dieser daraus selbst über sein Wohl – aber auch sein Weh – entscheidet. Über die Machart, den Stil, die Würzung, das Können sagt eine noch so detaillierte Speisekarte nichts aus. Und: Neues lernt man so ziemlich sicher nicht kennen.
In unserer dritten Woche in Tokio wollten wir eines Abends keine Weltreise mehr machen, sondern in ein nahegelegenes Izakaya (eine Art Beisl/Sake-Bar) mit guter Küche gehen. Wir baten unsere Concierge um Reservierung in einem von uns ausgesuchten nahen Lokal, weil man in Japan als Ausländer:in keinen Tisch bekommt. Die Concierge rief in unserer Anwesenheit im Lokal an, wir verstanden, dass Platz war. Als sie nach der Telefonnummer der Gäste gefragt wurde und sie mit der europäischen Vorwahl begann, hieß es plötzlich, es sei doch kein Platz. Wir kannten das schon, und ich finde es sehr frustrierend. Mein Mann meinte: Gehen wir trotzdem hin. Ich wollte nicht, weil ich so eine Attitüde nicht mit meinem Geld unterstützen möchte. Er überredete mich, weil das auf Fisch spezialisierte Izakaya richtig gut klang.
Es liegt in einer reinen Wohngegend im ersten Stock. Ohne Restaurantführer oder Empfehlung und Google würde man es nie finden. Durch ein winziges Entrée mit einem kleinen, beleuchteten Schreinchen betreten wir das Lokal. Eine coole Bude, eng, ein langer Tresen, ein paar kleine Tische, modern, aber irgendwie auch heimelig, Beisl auf Japanisch, das Publikum in unserem Alter, gut gekleidet, und alle starren zuerst uns, dann den Küchenchef hinter seiner Budel an. Er sagt statt einer Begrüßung „No English Menu“ und hofft wohl, dass wir rückwärts wieder rausgehen. Ich weiß in dem Moment, dass er weiß, dass wir es waren, für die vor einer halben Stunde angerufen wurde. Und er weiß, dass wir wissen, dass er uns keinen Platz geben wollte. Aber an der Theke sind noch Plätze, und wir bitten höflich darum, Platz nehmen zu dürfen. Und erwähnen bewusst und gleich zu Beginn das Wort „Omakase“. Damit lässt er sich unwirschen Blickes erweichen, weist uns die zwei Plätze ganz am Rand zu, und fragt dreimal nach: Omakase? Hai, wir nicken, sitzen aufrecht wie bei einer Prüfung und versuchen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf uns zu ziehen.


Illustration: Illustration: Katharina Anna Wieser/Bureau F


Wir bestellen Sake, ja gern den cloudy, der wird aus der Großflasche ausgeschenkt, die ziemlich poshe Sitznachbarin zieht – anerkennend, wie wir es interpretieren wollen – die Augenbraue hoch, uns immer wieder taxierend, wie wir denn beim Nippen dreinschauen. Dann kommt der erste Gang: Austern. Mein Mann mag keine Austern. Ich: Da musst jetzt durch, sonst schmeißt er uns raus. Die Austern sind die besten, die ich je hatte. Sashimi mit herrlich süßem, feinem Seeigel. Jeden Teller sucht der Küchenchef (seine Frau schupft derweil den Laden) aus Stapeln auf der Theke heraus, nimmt nicht einfach den obersten. Wellhornschnecke mit butterweich gegarten weißen Rüben und Zitrus. Der nächste Teller dauert ein wenig länger. Das Omelett Tamago wird vor unseren Augen in der typischen quadratischen Gusseisenpfanne zubereitet. Bei jeder Wendung feuern die Stammgäste den Koch mit Oooh! und Aaah! an. Ein Lächeln kommt ihm aus. So saftig war noch kein Tamago zuvor, so heiß auch nicht.
Als Nächstes kommen drei kleine beige Keile mit orangen Einsprengseln, darüber frisch geriebene Yuzuschale. Ankimo hören wir den mittlerweile etwas entspannteren Küchenchef sagen. Er beginnt jetzt, uns Details am Handy zu übersetzen und hinzuhalten. Die Nachbarin springt ein und übersetzt simultan. Ja, tatsächlich, die berühmte Seeteufelleber, mariniert, gedämpft, wahnsinnig gut. Erst nach dem letzten Stückchen kommt ein freundlicher Tiger auf dem Teller zum Vorschein. Später dann ein paar Stücke frittierter Fisch, mit frischem Sanshopulver bestreut (die grünen Beeren vom japanischen Pfeffer, eine extrem aromatische, zitrusduftig-prickelnd-scharfe Angelegenheit). Wir glauben uns verhört zu haben, als er von Fugu spricht. Aber nein, die Nachbarin bestätigt es – leider. Das haben wir jetzt von unserem Omakase. Ich wollte nie Fugu essen, aber ich weiß, dass ein Koch in Japan nur nach mehrjähriger Ausbildung/Erfahrung die Lizenz zur Verarbeitung des – falsch zubereitet tödlichen – Kugelfisches bekommt. Ein großer Schluck vom mittlerweile nächsten Sake, lachende Nachbarn, die uns schon auszufragen beginnen über den Grund für unseren Japan-Aufenthalt, die Jacke, die wir tragen, warum wir alles so genau wissen wollen, in solche Lokale gingen und überhaupt. Jetzt können wir auch nicht mehr kneifen.
Als ich den Fugu (der gut schmeckt, aber im Kopf war vor lauter Aufregung zu wenig Platz für das Erinnern des Geschmacks) esse, wird mir schlagartig klar, warum japanische Gastronom:innen ausländische Gäste so oft ablehnen bzw. misstrauisch sind: Was, wenn wir gesagt hätten, was wir alles nicht essen oder wenn ja, dann nur so und so? Wenn wir eine englische Speisekarte verlangt hätten (die es nicht gab)? Wenn wir diese perfekten Miniaturen vor den vielen Stammgästen kritisiert, sie nicht wertgeschätzt hätten? Wenn wir eingreifen hätten wollen in die Dramaturgie des Chefs? Etwas anderes stattdessen haben hätten wollen? Ankimo, diese Delikatesse, zu fett gefunden oder übrig gelassen, eine Szene beim Fugu gemacht hätten?
Nach dem Fugu kommt noch ein Stück gegrillter, rauchiger, aber leichter, ganz anders als sonst marinierter Aal. Wir deuten mit den Händen, dass alles super war, oishii desu, aber leider in unsere Bäuche nix mehr hineingehe. Jetzt lacht der Koch, schreibt uns am Handy, dass das eh der letzte Gang war. Wir gehen beglückt und fröhlich – und ein klein wenig vom Sake und dem Fugu berauscht – mit viel Abschiedstrara von den Stammgästen (lustig und laut) und dem Inhaberpaar (höflich-distanziert, aber viel freundlicher als zu Beginn), und ich mit zwei Erkenntnissen reicher: Was Omakase wirklich bedeutet – dass es nämlich zweier Personen bedarf: Jener, die entscheidet, und jener, die sich darauf einlässt. Und was wir uns mit unserer vermeintlichen kulinarischen Besserwisserei und epischen Speisekarten alles vorenthalten.

Die restlichen Teile dieser kulinarischen Reise durch Japan gibt es hier.

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