Gesellschaft

Der Geschmack des
Chthuluzän

von Tomas Zierhofer-Kin


Foto: Midjourney/Andrej Rutar

Wie Future Food ein neues Weltbild erschaffen kann …

Mit dem Begriff „Chthuluzän“ hat die Theoretikerin Donna Haraway einen Möglichkeitsraum für Gegenerzählungen und somit ein Labor für das Entstehen neuer Weltbilder erschaffen. Erklärungsmodelle wie Anthropozän und Kapitalozän erscheinen ihr zu groß, zu einfach, sie liefern auch nicht die notwendigen Erzählungen, um aus tradierten Denk- und Handlungsmustern auszubrechen, die für jegliches Leben zerstörerisch sind. 


Das Chthuluzän beschwört hingegen das Chthonische, die Kräfte der Erde, die in vielen animistischen und pantheistischen Kulturen verehrt werden. Da es auch die mannigfachen ökologischen wie sozialen Interaktionen mit unseren nichtmenschlichen Ko-Akteur:innen einbezieht, eröffnet es uns Perspektiven zu einem anderen Verständnis der Welt.
Mit Werktiteln wie „Making Kin in the Chthulucene!“ (in etwa: „Macht euch verwandt“) regt Haraway nicht nur zu einer zukünftigen Welt der Gemeinschaften auch jenseits der Grenzen von Spezies an, sie gilt auch als die unumstrittene Inspirationsquelle einer neuen Generation von Künstler:innen.

Wie wäre es, wenn sie diese Rolle auch für die vielgestaltige Bewegung der Future Food Culture einnehmen würde?
Denn erst, wenn wir wissen, wie das Chthuluzän aussieht, klingt, schmeckt, riecht oder sich anfühlt, werden wir, infiziert von diesen prägenden sinnlichen Erfahrungen, all unsere Handlungen aus den toxischen Traditionen lösen können, um neue Bilder einer Welt der Gemeinsamkeiten zu zeichnen.


Das, was wir eine zukünftige Kultur des Essens nennen, ist in Wirklichkeit ein Jahrmarkt an Millionen von Ansätzen, Ideen, Theorien und praktischen Beispielen. Anbauen, Sammeln, Jagen, Fermentieren, Kochen in all ihren ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Mal fortschritts- und technologieverliebt, mal radikal aktivistisch, ökologisch, sozial, verkopft oder verbaucht, als Predigten des neuen Hedonismus oder des neuen Verzichts.


Was alle Ansätze eint, ist das Bewusstsein, dass Essen und Trinken politische Akte (selbst- wie fremdgesteuert) sind. Das sind sie zweifelsfrei: die tägliche Entscheidung zu einem Lebensmittel zieht einen Rattenschwanz an sozialen wie ökologischen Konsequenzen in einem fatalen System der Ausbeutung nach sich. Dieses System basiert „naturgemäß“ auf einem falsch gelesenen Darwin und untermauert, stabilisiert und formt ein tradiertes „Recht des Stärkeren“, eine strukturelle Gewalt gegen Menschen und Nichtmenschen, in der sich oft die „Schwächeren“ ihre eigenen Gräber schaufeln müssen. 
Es wird also im Sinn der Gegenerzählungen der Future Food Culture darum gehen, Ideen und Konzepte zu bündeln, zu überprüfen und sich über alle Grenzen von Disziplinen, Kulturen und  Lebensbereichen hinweg zu vernetzen, um so etwas wie einen „Hitchhikers Guide ins Chthuluzän“ zu verfassen. 


Einen Reiseführer in ein Weltbild, das den alten wie verheerenden Gegensatz von Natur und Kultur wieder auflöst. In biblischen Zeiten, spätestens seit der Renaissance, hat die „verwestlichte“ Welt gedanklich die folgenschwere Trennung von Mensch und Natur vollzogen. Gedanklich allerdings nur, denn wir blieben trotz allem Teil der ökologischen Kreisläufe, und jede unserer Handlungen hatte und hat Auswirkungen. Allerdings toxische! 
Toxisch deshalb, weil wir ein gedankliches System des Erschaffens von Identität durch Differenz etabliert haben. Spätestens seit dem Moment der mentalen Trennung vom Rest der Natur ging es darum, sich von den anderen und dem anderen abzugrenzen. Das betrifft sowohl ein System des Denkens und Handelns, das die Trennung von Mensch und Tier, Mensch und Pflanze, Pilz, Mikroorganismus hochhält, als auch die Trennung zwischen uns Menschen selbst, was biologisches oder definiertes Geschlecht, Hautfarbe, Kultur, sozialen Status etc. betrifft.


Ernährung ist aber auch deshalb extrem politisch, weil sie – gefolgt von Vermehrung – die Basis des Ökosystems und somit die Triebfeder jeglicher sozialer Interaktion ist: von Solidar- bis Zweckgemeinschaft, innerhalb von Spezies aber auch weit über deren Grenzen hinaus. Anhand von Essen und Trinken haben wir in unserer abgelösten Menschenkultur die große Chance, uns gedanklich, sinnlich und praktisch mit dem ökologischen System, dessen Teil wir nicht (noch immer) sind und von dem wir in existenzieller Weise abhängen, wieder zu verbinden. 


Rituale waren und sind in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten sinnliche wie gedankliche Performances, die die Idee der Wiederverbindung – zwischen Menschen und Menschen sowie mit der nichtmenschlichen Natur – zelebrieren. Wir müssen uns also entgrenzen, um uns wieder zu verbünden! Egal welche Ansätze – von uralter Praxis bis zu neu erdachter Technologie – wir verfolgen, lassen wir uns von Dionysos und den Erdgöttinnen inspirieren und vernetzen wir uns über alle Grenzen von Disziplinen und Kulturen hinweg, um den Geschmack, den Geruch des Chthuluzän als globales Gastmahl zu inszenieren. Oder wie der Künstler und Theoretiker James Bridle sagt: „Der einzige Weg vorwärts ist ein gemeinsamer.“

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