Gesellschaft, Kolumnen

No Filter: Hunger in Österreich

von Nina Mohimi


Foto: Unsplash.com/Andrea de Santis

Wie nahe das Thema Armut und Hunger in meine unmittelbare Umgebung gerückt ist, wurde mir klar, als eine Freundin letztes Jahr, als ich ihr von dem Artikel erzählt habe, gemeint hat, dass sie ziemlich oft Brühwürfelsuppe trinkt, weil sie sich nur einmal am Tag eine richtige Mahlzeit leisten kann und die Suppe den Hunger etwas mildert. Sie kauft lieber Obst für ihren Sohn, und das geht sich alles sonst nicht aus.
Österreich ist ein reiches Land, das für seinen hohen Lebensstandard und sein reichhaltiges kulturelles Erbe bekannt ist. Aber es gibt sie, diese weniger sichtbare Seite, die wir gerne übersehen, und sie ist für viele die tägliche Lebensrealität: die Herausforderungen rund um Armut, Hunger und Lebensmittelversorgungssicherheit. 
Als ich das erste Mal mit einer Kochgruppe in der Caritas-Gruft war, war ich nicht vorbereitet auf das, was ich dort erleben sollte. Mehr als 200 Menschen aus allen Altersgruppen, die dort warteten. Viele kannten sich schon, plauderten mit den (oft ehrenamtlichen) Mitarbeiter:innen.
Der eine freundliche Mann war es, der mich gedanklich seit damals nie mehr losgelassen hat: ein älterer Herr, um die 70. Er hatte bei der Essensausgabe gefragt, ob er vielleicht mehr Salat haben kann, und mich mit kindlicher Vorfreude angegrinst, als ich ihm zum Nachtisch unterschiedliches Obst anbot. „Wissen S’, ich kann nicht oft was aussuchen. Erdbeeren habe ich schon sehr lange nicht gegessen.“
Es war aber gar nicht seine Freude oder die Tatsache, dass er geduldig gewartet hat, bis alle Essen bekommen haben, bevor er gefragt hat, ob er noch eine kleine Portion haben kann – „weil dann reicht es bis morgen Abend“ die mich innerlich zerrissen hat. Es war die Tatsache, dass er sich seinen (recht zerschlissenen) Sonntagsanzug mit einem alten, vergilbten Stecktuch angezogen hat, um in der Gruft zu essen; dieses kleine Symbol von Würde und Respekt.
Er hat sich nicht aufgegeben. Er hatte einfach nur Hunger, und am Ende des Monats reichte seine Pension halt einfach nicht mehr, um diesen zu stillen. 
Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass trotz des allgemeinen Wohlstands ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung von Armut betroffen oder bedroht ist. Arbeitslosigkeit, niedrige Einkommen und hohe Lebenshaltungskosten können dazu führen, dass Haushalte Schwierigkeiten haben, sich ausreichend zu ernähren. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Arbeitslose und ältere Menschen (besonders Frauen) mit niedrigen Pensionen.
Organisationen, die sich der Lebensmittelverteilung an Bedürftige widmen, berichten von steigenden Zahlen an Hilfesuchenden (nochmal mehr seit der Pandemie, der Energiekrise und der folgenden Inflation).
Was wir dagegen tun können? Einiges.
Ein paar konstruktive Lösungsansätze:

Aufklärung

Hunger haben mehr Menschen, als man vermuten würde. Je mehr Menschen über die Thematik Bescheid wissen, desto größer ist die Chance, dass mehr Menschen helfen, diese Tatsache zu ändern. Daten der Statistik Austria zufolge leben in Österreich etwa 200.000 Menschen, oder 2,3 Prozent der Bevölkerung, unter Bedingungen erheblicher materieller Deprivation. Zur besseren Vorstellung: Das entspricht circa der Einwohnerzahl von Linz. 
Sie verfügen über so geringe Einkommen, dass selbst grundlegende Bedürfnisse und Lebensbereiche unerschwinglich werden. Besonders vulnerabel sind dabei spezifische Gruppen: Kinder, ältere Frauen, Alleinerziehende, langzeitarbeitslose Personen sowie Menschen mit chronischen Erkrankungen stehen besonders im Risiko. Kinder sind überproportional von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, wobei 22 Prozent aller von Armut bedrohten Personen jünger als 18 Jahre sind – das entspricht rund 353.000 Kindern. 
Unter den Rentner:innen stellt sich die Situation für alleinlebende Frauen mit einer überdurchschnittlichen Betroffenheitsrate von 28 Prozent als besonders prekär dar.

Bildungsprogramme

Die Bekämpfung von Hunger und Armut, insbesondere im Hinblick auf Frauenaltersarmut und die Situation Alleinerziehender erfordert gezielte präventive Maßnahmen, die bei Aufklärung ansetzen. Programme zu finanzieller Bildung spielen eine entscheidende Rolle, indem sie Frauen und Alleinerziehenden das notwendige Wissen und die Werkzeuge an die Hand geben, um finanzielle Sicherheit zu erlangen (und zu bewahren). Durch die Vermittlung von Grundlagen im Finanzmanagement können solche Programme dabei helfen, ein Bewusstsein für die Bedeutung von finanzieller Vorsorge zu schaffen. Darüber hinaus ist die Aufklärung über rechtliche Aspekte wie Heiratsverträge, Absicherungen und andere Schutzmechanismen essenziell, um insbesondere Frauen vor finanziellen Risiken in Folge von Lebensereignissen wie Scheidung oder dem Verlust des Partners zu schützen.

Landwirtschaft

Da die Zahlen der armutsbetroffenen Menschen ständig steigen, gilt es auch im Bereich Landwirtschaft vorzusorgen und die Nachhaltigkeit in der Nahrungsmittelproduktion zu gewährleisten beziehungsweise auf resiliente landwirtschaftliche Praktiken zu setzen. Das soll nicht nur die Produktivität und den Ertrag erhöhen, sondern auch die Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel sowie an extreme Wetterereignisse wie Dürren und Überschwemmungen verbessern und die Bodenqualität kontinuierlich fördern. 
Ebenso wichtig ist die Bewahrung der genetischen Vielfalt von Saatgut und Kulturpflanzen, unterstützt durch gut organisierte und vielfältige Saatgut- und Pflanzenbanken. Zusätzliche Investitionen in die ländliche Infrastruktur, Agrarforschung und Technologieentwicklung sind ebenso wichtig. Durch diese Ansätze können wir eine robuste, nachhaltige Landwirtschaft fördern, die uns auch in Zukunft versorgen kann.

Konsumverhalten

Indem jeder von uns bewusst lokale Bäuer:innen unterstützt sowie Produkte bevorzugt, die mit Zutaten aus der Region hergestellt wurden, tragen wir signifikant zur Stärkung der heimischen Wirtschaft bei und verkürzen gleichzeitig die Wege, die unsere Lebensmittel zurücklegen müssen. Diese gezielte Wahl ist nicht nur ein Gewinn für die Umwelt durch die Reduzierung von Transportdistanzen, sondern sie verbessert auch die Sicherheit unserer Lebensmittelversorgung, indem sie unsere Abhängigkeit von ausländischen Importen verringert.
Für alle, die gern essen gehen: Seit 15 Jahren gibt es die Initiative „Suppe mit Sinn“. Das Prinzip ist ebenso simpel: Teilnehmende Restaurants und Gastronomiebetriebe erklären jedes Jahr eine spezielle Suppe auf ihrer Karte zur „Suppe mit Sinn“. Mit jeder verkauften Portion wird zehn Menschen in Not eine sättigende Mahlzeit ermöglicht. Ihr könnt übrigens auch helfen, indem ihr mehr Lokale motiviert mitzumachen. 

Spenden

Natürlich gibt es auch noch Zeit- und Sachspenden. Organisationen, die sich der Verteilung von Lebensmitteln an Bedürftige widmen, sind immer auf der Suche nach helfenden Händen und Spenden. Dazu ist es nicht unbedingt notwendig, direkt vor Ort zu helfen. Man kann unverbrauchte (verschlossene und originalverpackte) Lebensmittel nach Events oder Feiern vorbeibringen. Oder den Kühlschrankinhalt (an intakten Lebensmitteln) spenden, wenn man weiß, dass man die kommende Woche eh nicht daheim essen wird. Man kann eine Runde Pizzas spenden. Oder eine Kochgruppe organisieren und das Team vor Ort (das oft aus freiwilligen Helfer:innen besteht) bei einer Ausgabe unterstützen. Darüber hinaus kann man an privaten Food-Sharing-Initiativen teilnehmen, die überschüssige Lebensmittel hungerleidenden Menschen zugutekommen lassen.

Und nicht zuletzt: Empathie

Die Auseinandersetzung mit den Themen Hunger und Armut verlangt Empathie – eine Qualität, die nicht nur die eigene Perspektive erweitert, sondern auch das Potenzial hat, das gesellschaftliche Miteinander grundlegend zu verändern. Es ermöglicht uns, die Realität derjenigen zu erkennen und zu spüren, die mit täglichen Herausforderungen kämpfen, die uns fremd sind. 
Ja, vielleicht sind viele selbstverschuldet in die Armut geschlittert. Und? Kann ich deshalb nicht trotzdem helfen wollen? Leidet die Person oder die Familie deshalb weniger? Die Schuldfrage ist nicht relevant, wenn es um eine akute Lösung geht. Menschen haben Hunger, und das ist nicht akzeptabel. Wir können auch einfach mal weich sein. 
Marion Jambor, Legendinnenwirtin, ist übrigens so eine empathische Inspirationsquelle, was das Aufzeigen sozialer Ungerechtigkeiten (und schneller Lösungen) angeht. Mit einer eloquenten Selbstverständlichkeit, die mir hoffentlich auch irgendwann gelingt. Das ist ein Schlüssel, um von einer Gesellschaft des Wegschauens zu einer des Hinschauens, des Verstehens und letztlich des Handelns zu gelangen. Wir haben jeden Tag Gelegenheit, Solidarität zu zeigen.

Hilfreiche Adressen: 

Weiterführende Information

orf.at

kleinezeitung.at

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