Vom generativen Geschmack zur Massenindividualisierung von Rezepturen
Die Frage nach dem Rezept gehört zum guten Ton eines kontextbezogenen Tischgesprächs, auch wenn die so formulierte Lobpreisung von Selbstgekochtem freilich nie mit dem Nachkochen endet. Es ist ein Ritual, mit dem einfach höflich bekundet wird, dass es zumindest interessant schmeckt. Weitergegeben wird das Rezept trotzdem. Von der mündlichen Überlieferung über analoge Medien bis hin zur digitalen Transformation begleitet die Menschheit eine Obsession für Kochanleitungen und deren Evaluierung. Das Internet hat mitgeholfen, die Archive der Menschheit für alle im Wege der esskulturellen Aneignung zugänglich zu machen. Und ich gestehe, dass auch meine Streams voll mit ungefragten Empfehlungen sind – wahrscheinlich weil ich auf Instagram zu oft bei @chefreactions stoppe, um den Kulturkampf, der sich aus Demokratisierung der Rezepturen und dem Aufeinanderprallen von Fertiggerichten ergibt, vom Bett aus verfolgen will.
Wie viele verschiedene Rezepte gibt es eigentlich? So viele, wie es Bücher und Lieder gibt: unendlich viele. Der Versuch, Kochanleitungen vollumfänglich zu erfassen, muss scheitern und geht auch am Nutzwert vorbei, wenn man wirklich einmal ein Rezept braucht, danach sucht und zu viele verschiedene findet. Tatsächlich ist jeder Kochvorgang, so rezepttreu er auch sein mag, verschieden. Dementsprechend ist der Werkschutz des Endresultats eine Illusion, zumal seine Existenz ohnehin von begrenzter Dauer ist. Es sind Lieder mit verschiedenen Interpretationen, die einer unterschiedlich detaillierten Anleitung folgen.
GIGO
Kochen erinnert daher sehr stark an die Algorithmen generativer künstlicher Intelligenz. Man promptet ein paar Zutaten und bekommt in der Regel ein halbwegs erwartbares Ergebnis, das ja auch Ausgangspunkt des menschlichen Reverse-Engineerings zur Eingabe war. Mitunter weicht es auch dramatisch ab. Probieren Sie zu diesem Behufe einmal, sich von ChatGPT (also Dall-E) ein Kalbsbutterschnitzel zeichnen zu lassen. Sie bekommen GIGO („garbage in, garbage out“). Um ein gutes Ergebnis zu erzielen, muss der Input für das algorithmische Modell auch passen. Es folgt aber keiner strengen Formel, die aus Inputvariablen ein zwingendes, sondern vielmehr eine Annäherung, ein mögliches Resultat erzeugt.
Damit sind wir eigentlich bei dem, was heute als Post Normal Science bezeichnet wird. Viele Phänomene sind so komplex, dass Berechnungen schnell unmöglich werden. Das beste Beispiel ist das Wetter, dessen Prognose zwar in einem gewissen Rahmen und für ein paar Tage halbwegs gut funktioniert, aber dann unberechenbar wird. Das machten sich schon vor tausenden Jahren Scharlatane zunutze, die sich als Schamanen die Beeinflussung des Niederschlags vergüten ließen. Daraus wurde dann später die organisierte Religion, aber das ist eine andere Geschichte.
Die Annäherung an Lösungen über das Lernen von Mustern und über den Weg des Probierens sind Merkmale von Werkzeugen, die im Rahmen von Post Normal Science zum Einsatz kommen. Es ist Trial und Error in großem Stil, das in Situationen von hoher Dringlichkeit Lösungen bietet, die über einen klassischen Zugang zu lang dauern würden – Pandemien etwa. Für die Entwicklung seines mRNA-Wirkstoffs gegen Covid-19 setzte das Unternehmen Moderna auf die Möglichkeiten von Big Data mit entsprechender Rechenleistung, ohne die eine schnelle Sequenzierung des Genoms, Strukturvorhersagen von Proteinen, Design und Optimierung von mRNA-Sequenzen und Simulationen von Immunantworten nicht möglich gewesen wären.
Bild: Dall-E
Verschwörungspraxis: Dolly Parton
Ist es nun ein Zufall, dass dieselbe Dolly Parton, die nicht nur für das berühmte Klonschaf (nicht aber Dall-E) den Namen spendete, sondern auch eine Million Dollar an Moderna, auch für die Rezepturen (weitgehend) veganer Backmischungen Pate steht? Wahrscheinlich, höchst. Was aber jedenfalls der Fall ist, ist, dass die Datenwissenschaft mitsamt dem verfügbaren Quotienten künstlicher Intelligenz in die Labore der Lebensmittelproduktion eingezogen ist. So hat etwa das US-amerikanische Unternehmen NotCo, das hervorragende pflanzenbasierte Burger produziert, gemeinsam mit Shake Shack einen veganen Milkshake konzipiert, an dem auch die AI Giuseppe mitgearbeitet hat. Wie das genau abgelaufen ist, wurde unter anderem auf der diesjährigen SXSW in Austin, Texas präsentiert. Benannt ist das Programm nach dem italienischen Manieristen Giuseppe Arcimboldo, dessen „Vier Jahreszeiten“ abgesehen von ein paar verirrten Käfern und anderen Insekten durchaus als vegane Rezepturen gelten können.
Aber auch die Mitbewerber der NotCo, darunter Impossible Foods und Beyond Meat, nützen die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, um Proteine zu finden, die dem Geschmack tierischer Fleischprodukte entsprechen, und um unter Millionen von Aroma-Kombinationen jene herauszufinden, die gut schmecken könnten. Die Rezepturen werden anschließend tierfreundlich in Menschenversuchen getestet.
So kühl, berechnend und naturwissenschaftlich das auch klingt, so wenig ist es das. Es ist der Beginn einer Annäherung an die verschiedenen subjektiven Wirklichkeiten, denen wir in Summe ausgesetzt sind. Dafür gibt es keine eine richtige Lösung, sondern eine Vielzahl möglicher Lösungen. So viele, wie es eben Menschen gibt. Die Konsequenz daraus: Bald schon werden wir Nahrungsmittel essen, die nach unseren eigenen Vorlieben individualisiert werden können. Ob man dieses Angebot dann auch zu sich nimmt, ist Geschmackssache.