Land der aufgehenden Wonne
Was wir uns von der japanischen Ess- und Trinkkultur abschauen könnten – und was lieber nicht.
Fotos: Katharina Seiser
Mit neun Jahren Abstand hat mich auch das zweite Mal Japan im vergangenen Winter unendlich fasziniert. Für einen kulinarischen Menschen, der nur ans Essen denkt, eh klar. Aber warum eigentlich? Völlig subjektive Beobachtungen nach dem obligatorischen Kulturschock in beide Richtungen.
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Saison, aber echt jetzt
Als ich 2015 das erste Mal in Japan war, zufällig zur gleichen Zeit wie das Noma Pop-up in Tokio, durfte ich für dieSüddeutsche Zeitung ein Interview mit René Redzepi über deren Gastspiel dort machen. Nach einer Aussage von ihm konnte ich mich kaum mehr auf etwas anderes konzentrieren, weil sie alles über den Haufen warf, was ich mir bisher zu dem Thema zurechtgelegt hatte: In Kyotos Kaiseki-Küche, so erzählte er selbst ziemlich verblüfft über die auch für ihn neue Tatsache, kenne man 36 Saisonen! Ich rechnete kurz nach, Saisonwechsel also alle zehn Tage, mein lieber Scholli. Aber das war noch nicht alles: Mit den Saisonen wechsle man nicht nur die Zutaten und Zubereitungsarten, sondern auch das Geschirr, die Stäbchen und den Schmuck aus Pflanzen (der in Japan weit mehr als ein Blumenstrauß ist). Wie kann man so ein Land nicht lieben?
Unser Jahr lässt sich grob in die Saisonen Bärlauch, Spargel, Erdbeeren, Marillen und Kürbis einteilen. Manche würden noch Schwammerl ergänzen, aber die meisten (ich inklusive) wissen ja nicht einmal, welche wo und wann genau wachsen.
Es kommt aber noch besser: 2023 hatte das Noma ein erneutes Pop-up in Japan, diesmal in – wen wundert’s – Kyoto. Daraus entstand ein Magazin, und in diesem geht es auch um Saison. Nur dass jetzt nicht mehr von 36, sondern gar 72 Mikro-Saisonen im japanischen Kalender die Rede ist, gruppiert in 24 Abschnitte, die man dort aus stetiger Beobachtung der Vegetation kennt. Wen das jetzt schon beim Gedanken stresst: Willkommen in meiner Welt. Aber auch: Entdecke die Möglichkeiten! Diesen 5-Tages-Takt kennen wir ja aus Hoch- und Spätsommer, auch wenn sich die Saisonen nicht so deutlich voneinander abgrenzen lassen, wenn wir mit dem Verwenden und Konservieren der nur dann so guten oder überhaupt erhältlichen Preziosen komplett überfordert sind: Weichseln! Walderdbeeren! Frische Favabohnen! Ungarische Beste-Marillen! German Gold Paradeiser! Klaräpfel! Hauszwetschken!
Irgendwo zwischen unseren fürchterlich faden und falsch verstandenen Gastro-Saisonen (wer bitte will ein ganzes Menü mit Bärlauch, Spargel oder Kürbis?) und den unvorstellbaren 72 aus Kyoto liegt das große kulinarische Potenzial, die Freude, die Einzigartigkeit, die Vergänglichkeit, die Abwechslung, das geschmeidige Wachsen und Wandeln und natürlich die Vorfreude aufs nächste Jahr, in dem wir – egal ob privat oder beruflich – schon leichtfüßiger mit dem Kommen und Gehen in der wilden und kultivierten Natur Schritt halten können.
Illustration: Katharina Anna Wieser/Bureau F