Kolumnen

No Filter – Folge 1: Selbstzensur

von Nina Mohimi


Illustration: Katharina Anna Wieser

Herzlich willkommen im Zeitalter der Lautlosen. 
Noch vor einiger Zeit hatte Meinung einen Wert, und Debatten waren eine nationale Sportart: Es war die Ära von Stammtischen und Club 2, einem legendären Talkformat im ORF. Nein, ich habe keinen ausgeprägten Hang dazu, die Vergangenheit zu romantisieren. Ich weiß schon, dass es leichter war, die eigene Haltung vor sich herzutragen, ohne dass sie – wie heute – für immer und alle im Netz nachlesbar war. Mit dem technisch gegebenen Recht auf Vergessen und ohne dass Screenshots in Sekundenschnelle den Weg zu den kritisierten Personen gefunden haben. Heute scheint es aber fast schon so, als ob Diskretion und Konformität die neuen Tugenden wären.
Kuschen ist King. Pleasing sells. 
Individuelle Betrachtungsweisen, besonders von der generellen Grundhaltung der eigenen Interessengemeinschaft abweichende, werden schnell als schwierig und sogar störend angesehen. 
Ja, warum gelten manche Personen eigentlich als „schwierig“? 
Meine Theorie du jour: Sie sind einfach zu ehrlich.
Das gilt ganz generell im Leben und zeigt sich sehr schön beim Essen und seinen gastronomischen Begleiterscheinungen.
Soda Zitron mit Zitronensaftkonzentrat – warum nicht gleich ein Toilettensteinchen ins Glas werfen? Der Weinkühler kommt so spät daher, dass der Wein inzwischen einen Karrierewechsel zum Glühwein vollzogen hat. Der hochgejubelte Sommelier, der übersieht, dass ich nicht für sein Augenrollen ob meiner alkoholfreien Getränkewahl hier bin. Das „kreative“ Sharing-Konzept, das uns mit großzügigen drei Sardinen für vier Personen raten lässt: Wer bekommt denn jetzt das dritte Fischlein? Spannung pur! „Hausgemachte“ Pasta, die wahrscheinlich noch nie ein Zuhause gesehen hat, geschweige denn eine Küche. 
Alles Beispiele, die man absolut nicht still ertragen muss, um ja nicht als mühsamer Gast zu gelten. Warum denn auch?! 
Wir benennen hier ja nur den Elefanten im Raum, über den andere später tuscheln. Das ist natürlich für die ständige „Alles-ist-gut“-Fraktion eine wahre Herausforderung, denn Direktheit und Ehrlichkeit verbreiten bei anderen sehr oft Unbehagen. Auch weil wir ihnen damit den Spiegel vorhalten und sie an ihre eigene, bequeme Mutlosigkeit erinnern. Klar, Everybody’s Darling zu sein, ist der viel leichtere Weg.
Ein gutes Beispiel an dieser Stelle sind auch alle Jahre wieder die Rolling Pin Days mit ihrer beispiellos armseligen Diversität. Dieses veränderungsresistente Event wird, was die Tonalität angeht, aktuell nur von Automobilmessen und Proteindrink-Plakaten in Fitnesscentern geschlagen. Jedes Mal, wenn ich das Line-up und die (Bild-)Sprache dieser Branchenveranstaltung kritisiere, droht meine Inbox vor lauter Nachrichten von Personen, die mir enthusiastisch zustimmen, förmlich zu explodieren. Und wie viele trauen sich, das gleiche Lied in der Öffentlichkeit zu singen? Ein lautes Echo von … Stille.
Ich glaube nicht, dass es daran scheitert, dass Missstände zu wenigen Personen auffallen – allein an der Courage fehlt es, sich selbst durch eine Verbalisierung unter Umständen in eine unbequeme Position zu bringen. Diese Entwicklung zur Selbstzensur ist meiner Meinung nach ein großes Problem. 
Der gesellschaftliche Diskurs, der auf offenen Debatten und kritischer Reflexion basiert, wird durch die Vermeidung kontroverser Themen und Meinungen untergraben. Und der Druck, der zur Veränderung von Missständen beitragen könnte, unterbleibt. 
Also, in diesem Sinne: Weniger mute, dafür mehr Mut!

Austausch dazu gerne via: nina@popchop.at oder via instagram.com/ninamohimi

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