Der Schatzkartograph der Wildnis
Thomas Guldbæk ist Forager und zeigt skandinavischen Küchenstars, was die Natur Bornholms alles hergibt. Dank ihm beziehen Restaurants wie das Kadeau viele Zutaten direkt aus Salzwiesen, Küstenwäldern und vom Wegesrand. Nun arbeitet er an einer Wildpflanzenkarte der dänischen Ostseeinsel.
Die Sache mit den Wacholderbeeren hat er auch nach Jahren der Zusammenarbeit noch nicht verstanden. Warum man im Bornholmer Avantgarderestaurant Kadeau Wacholderbeeren schält – „Wacholderbeeren schält!!“ –, wird für Thomas Guldbæk ein Rätsel bleiben. Aber er scheint irgendwie doch froh über die Erweiterung seines Horizonts, was die Wildpflanzenwelt Bornholms betrifft; normalerweise ist er derjenige, der mit anderen seinen Erfahrungsschatz teilt. Als sogenannter Forager ist Guldbæk in der Wildnis der dänischen Ostseeinsel unterwegs, um zu pflücken, zu schneiden, zu sammeln, was sie hergibt. Manchmal für seinen Eigenbedarf – „wir Bornholmer legen ja alles in Alkohol ein“ –, manchmal zu Forschungszwecken oder um dem nationalen Kochwettbewerb Sol over Gudhjem Material beizusteuern. Bisweilen hat der studierte Naturwissenschaftler auch berühmte Köch:innen im Schlepptau, die scharf auf neue Zutaten sind, die möglichst niemand sonst hat und die man nicht einfach so kaufen kann. Köche wie René Redzepi, den Chef des Noma in Kopenhagen. Das ist dann doch ein Name, den Guldbæk preisgibt; über andere skandinavische Küchenstars, die mit ihm schon Bornholm durchstreiften, schweigt er nämlich lieber (mit Ausnahme des Kadeau-Teams). „Ich weiß einfach nicht, ob die das wollen …“ Redzepi jedenfalls wollte etwas. Er wollte nach einer solchen Tour fortan von Thomas Guldbæk mit Strand-Dreizack beliefert werden. Triglochin maritima ist ein knackiges Gras, der Feuchtigkeit innig zugetan, weshalb es die unmittelbare Nähe zum Meer sucht und sie etwa in einer nassen Wiese in Sichtweite des Bornholmer Küstenstädtchens Svaneke im Osten Bornholms findet. Das Besondere am Strand-Dreizack: Er schmeckt intensiv nach Koriandergrün. Skandinavischer Koriander, damit wollte der Noma-Chef anderen wieder einen Schritt voraus sein. Guldbæk aber lehnte ab. Noma schön und gut, die geforderten Mengen waren jedoch absurd, berichtet er mit ungerührter Miene, während er mit einer Andeutung von Eroberermanier eines seiner gummibestiefelten Beine auf jenem niedrigen Felsen platziert, am Fuße dessen das begehrte Gras wächst.
Für Thomas Guldbæk scheint dieses Nein gegenüber einem der maßgeblichen Köche der vergangenen Dekade (das bei Redzepi dem Vernehmen nach nicht gut angekommen ist) eine gewisse Bedeutung zu haben. Auf einem Bornholmer Schatz zu sitzen, den es kaum wo gibt, den kaum jemand haben kann, und sei dieser Jemand noch so einflussreich … Natürliche Begrenzung ist für ihn als Wildpflanzenexperte ein Lebensthema, und sie hat einen Wert.
Kein Wunder, dass er etwa am Wilden Schnittlauch einen Narren gefressen hat. Guldbæk führt aus einem lichten, mit Bärlauch dicht bevölkerten Wald heraus zu einer sumpfigen Wiese direkt am Meer, durchsetzt von kleinen, mit senfgelben Flechten bewachsenen Felsen. „Jetzt kommt das richtig nerdige Zeug. Jemand, der noch verrückter ist als ich, hat eine DNA-Analyse gemacht, daher wissen wir: Das da ist der Urschnittlauch. Und hier ist die einzige Stelle auf Bornholm, an der er wächst. Wie gesagt, richtig nerdig.“ Er schaut sich um. „Allein über diese paar Quadratmeter könnte ich stundenlang erzählen.“ Was die zahlreichen Wildpflanzen auf der Insel so interessant mache, sei unter anderem der niedrige Salzgehalt der Ostsee. „Wir haben an dieser Küste hier 0,8 Prozent Salzgehalt. Auf der anderen Seite Jütlands, in der Nordsee, sind es 3,3 Prozent. Ein ziemlicher Unterschied. Normalerweise würden so nahe am Meer wie hier also gar kein Mädesüß, kein Bärlauch wachsen, es wäre zu salzig. Auf Bornholm aber wachsen solche Sachen in Sichtweite zum Meer, und sie schmecken dadurch ganz leicht salzig und anders als anderswo. Hochinteressant!“ Das hätten auch jene Köch:innen bestätigt, die er beim Kochwettbewerb Sol over Gudhjem mit Zutaten aus Wildsammlung ausstatten durfte – „wohooo, ich will das für mein Restaurant!“.
Guldbæk bückt sich, pflückt einen leuchtend grünen Stängel eines niederwüchsigen Krauts, das sich an einigen Stellen wie zu Sitzstreiks zusammengerottet hat. „Strandportulak. Schmeckt nach Gurke.“ Ein paar Schritte entfernt pflückt er ein junges Mädesüß-Blatt, das in seiner plissierten Anmut geradewegs dem Atelier von Issey Miyake entsprungen sein könnte. Schon dem zarten Blatt merkt man den späteren schweren Duft der weißen Mädesüß-Blüten an, mandelig, an Waldmeister und Vanille erinnernd. Thomas Guldbæk hat mit den Blüten einen Likör versucht – „nicht vergessen, wir Bornholmer geben alles in Alkohol“ –, ein regionaler Amaretto sei ihm da vorgeschwebt. „Das Ergebnis war aber zu bitter. Mädesüß ist ja fast Medizin, es enthält Vorläufersubstanzen von Salicylsäure, die gegen Schmerzen wirkt. Der Name Aspirin kommt von dieser Pflanze!“ Tatsächlich heißt das Mädesüß auch Spierstaude, im 18. Jahrhundert wurde es als Spiraea ulmaria wissenschaftlich festgehalten, Salicylsäure kennt man auch als Spirsäure.
Im Restaurant Kadeau, das Guldbæk zwar nicht mit Wildpflanzen beliefert, aber mit dessen Team er von Beginn an immer wieder zu Lehrstreifzügen aufbricht, kocht man mit dem Mädesüß einen Sirup. „Der passt besonders gut zu Apfelsaft, wir servieren das so in unserer alkoholfreien Menübegleitung“, berichtet Kevin O’Donnell, die rechte Hand von Kadeau-Küchenchef Nicolai Nørregaard. „Und wir machen ein Öl damit.“ (Dazu muss man wissen: Was in der Tradition Bornholms der Ansatzalkohol, ist im Kadeau das Rapsöl – darin werden mittels verschiedener Küchentechniken zig Aromen der Natur konserviert, von Vogelbeerblüten bis hin zum Holz der Schwarzen Johannisbeere.) „Auch mit Hummer funktioniert Mädesüß sehr gut, ähnlich wie Vanille.“
Der Anspruch des Kadeau: die Natur der Insel Bornholm in Menüform zu konzentrieren. Was sich beispielsweise geradezu provozierend schlicht „Spring Salad“ nennt, ist in Wirklichkeit ein schier unendlich vielfältiges Potpourri aus frischen Kiefernblütensegmenten, gerade einmal fingernagelgroßen sauer eingelegten Johannisbeerblättern, Strand-Dreizack-Blüten, hauchdünnen Stachelbeerscheiben, zitrussaurem Ameisenpesto (nach dem englischen Wort für Ameise „Antcidity genannt“) und unüberblickbar vielen anderen Komponenten. Dank Thomas Guldbæk weiß das Kadeau-Team, wo auf der Insel man etwa die erwähnten Blüten der Kiefer pflücken kann, wann der perfekte Zeitpunkt für die Ernte von deren Zapfen ist, und wie man im Novemberwald die Bärlauchpflanzen erkennt, von denen man zu dieser Jahreszeit bitteschön die ausgewachsenen Wurzeln ausgraben möge.
Wenn er nicht auf Salzwiesen, in Wäldern oder auf Küstenwegen unterwegs ist, arbeitet Guldbæk als Projektleiter im „Gaarden“, dem Zentrum für die Esskultur Bornholm, das im Verbund mit einem landwirtschaftlichen Freilichtmuseum, einem Schau-Bauernhof, in Melsted im Nordosten Bornholms zu finden ist. Hier werden die Samen alter lokaler Gemüsesorten gebunkert, hier werden fast ausgestorbene Kulturpflanzen wie der Kümmel wieder kultiviert. „Irgendwann war es billiger, Kümmel zu kaufen, als ihn selbst anzubauen. Aber er ist doch von Bedeutung für Bornholm mit seinen Aquavit-Produzenten. Und es macht geschmacklich einen Riesenunterschied, ob man auch auf die Blätter zugreifen und sie mitverarbeiten kann!“ Derzeit ist Thomas Guldbæk mit einer Wildpflanzenkarte Bornholms beschäftigt: Darauf sollen alle Stellen exakt verzeichnet werden, an denen man Dinge wie Wilden Spargel, Wilden Knoblauch, Sanddorn oder Stranderbsen finden kann. Auch das Verbreiten von traditionellem Wissen und mögliches Storytelling rund um heimische Wildpflanzen – „da beraten wir Restaurants“ – sind ihm ein großes Anliegen. Bei seinen Touren mit Köch:innen grenzt er seinen Part stets klar ab, sagt Guldbæk: „Ich weiß, welche Pflanzen wo wachsen und welche Teile davon man essen kann, und ich weiß, was man früher damit gemacht hat. Dieses Wissen gebe ich an euch weiter. Was ihr in der Küche damit anstellt, ist eure Sache.“ Apropos Wacholderbeeren schälen.