Gesellschaft, Zukunft

Artenvielfalt ist Teil unserer Geschichte

von Sarah Satt

… und unserer Zukunft


Generiert mit Midjourney

Was uns die randvollen Supermarktregale mit Lebensmitteln aus aller Welt und die neuesten Food-Trends nicht erzählen: Die Artenvielfalt auf unserem Planeten – und auf unseren Tellern – geht schneller zurück als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Was wir essen, wird immer homogener. Mit alten Sorten und Landrassen schwinden nicht nur wichtige Kulturgüter, sondern auch die genetische Vielfalt, die wir benötigen, um künftig dem Klimawandel und Pflanzenkrankheiten zu trotzen. Während wir im letzten Jahrhundert drei Viertel aller Kulturpflanzen verloren haben, ist es für andere noch nicht zu spät. In seinem faszinierenden Buch „Eating to Extinction“ („Essen bis zum Aussterben“) reist Dan Saladino zu 34 der gefährdetsten Lebensmittel und den engagierten Menschen, die sie vor dem Verschwinden bewahren – von Kavilca, einer alten Emmer-Sorte in der Osttürkei, über die kohlschwarzen Ogye-Hühner in Südkorea bis zu den Oca-Knollen der Anden. Im Interview erzählt der britische Journalist und Autor, warum uns gerade die Vergangenheit unseres Lebensmittelsystems so viel für dessen Zukunft lehren kann.

Die Artenvielfalt ist entscheidend für unsere Zukunft. Warum wird uns ihr fortschreitender Verlust erst jetzt bewusst? 

Ich denke, es gibt jetzt ein größeres Bewusstsein für die Verflechtungen auf unserem Planeten. Wir erkennen die Zusammenhänge zwischen den größten Problemen unserer Zeit und welche wichtige Rolle die Biodiversität im Umgang damit, etwa mit dem Klimawandel, spielt. Globale Großereignisse, durch die Lebensmittelsysteme und Lieferketten drastisch verändert wurden, haben Fragen über die Resilienz und Verwundbarkeit des bestehenden Systems aufgeworfen. Außerdem wächst das Interesse an der gesundheitlichen Bedeutung unserer Lebensmittel. Wir befinden uns in einer Ära, in der wir diese Komplexität würdigen, verstehen und messen. Das rückt die Biodiversität und Lebensmittelvielfalt ins Rampenlicht.

Sie erzählen die Geschichten gefährdeter Lebensmittel vor dem Hintergrund der Geschichte unseres Ernährungssystems. Warum ist es wichtig, diese zu kennen?

Zunächst einmal ist es einfach eine faszinierende Geschichte, wie wir als Homo sapiens die Erde bevölkert, mit der Natur interagiert und diese Nahrungsvielfalt auf der ganzen Welt geschaffen haben. Um begreifbar zu machen, was wir verlieren und warum wir diese Vielfalt erhalten sollten, wollte ich erzählen, was alles an ihrer Entstehung beteiligt war. Es ist wichtig, diesen Prozess der Anpassung zu verstehen, und warum bestimmte Pflanzen, Tiere und Techniken nur in einigen Teilen der Welt zu finden sind. So wie wir menschliche Errungenschaften wie Kathedralen und Kunstwerke würdigen, sollte auch das Schaffen von Nahrungsmitteln von Landwirt:innen über die Jahrtausende hinweg gewürdigt werden. Dieser Wissensschatz gehört in jedem Bildungssystem auf der ganzen Welt auf den Lehrplan.

Im Epilog empfehlen Sie, wie ein Hadza zu denken. Welche Lektionen können wir von diesem Stamm lernen? 

Die Hadza sind eine der letzten verbliebenen Gruppen von Jäger:innen und Sammler:innen im Osten Afrikas. Obwohl sie vollkommen moderne Menschen sind, haben sie sich für diese Lebensweise entschieden, die man als die erfolgreichste der Menschheit bezeichnen könnte. Zwei Millionen Jahre lang haben die Menschen gejagt und gesammelt. Verglichen damit ist unsere Landwirtschaft ein neuartiges Experiment, das gerade einmal 10.000 Jahre andauert. Wir müssen nicht wieder zum Jagen und Sammeln zurückkehren, aber wir sollten über die Beziehung der Hadza zur biologischen Vielfalt nachdenken: Auf ihrem Speiseplan stehen potenziell 800 verschiedene wilde Pflanzen- und Tierarten. Bereits kleine Kinder haben ein detailliertes Pflanzenwissen und kennen die Lebenszyklen der Tiere. Die Hadza lehren uns, dass es wichtig ist, wieder eine Verbindung zu unserer Umwelt und der Quelle unserer Nahrung aufzubauen.

Überschätzen wir die Rolle der Technologie für die Zukunft unseres Essens Ihrer Meinung nach?

Kurz gesagt: Ja. Ich glaube an die Wichtigkeit von Vielfalt – die Vielfalt von Systemen, Techniken und Prozessen. Aber ihre Nutzung sollte nicht auf Kosten der Biodiversität gehen, die wir in Tausenden von Jahren geschaffen haben und die nicht wiederhergestellt werden kann, wenn das Wissen und die genetischen Ressourcen aussterben. Das Lebensmittelsystem und die Konsummuster in der Welt müssen sich eindeutig ändern. Das muss aber nicht zwangsläufig über neuartige Lebensmittel geschehen, die massenhaft Technologie und Investitionen an wenigen Orten auf der Welt erfordern, wie es bei der Präzisionsfermentation für alternative Proteine der Fall ist. Warum sind wir so darauf fixiert, Alternativen zu kreieren, wo wir doch seit Jahrtausenden diese nahrhaften, vielfältigen, köstlichen Proteine in Form von Hülsenfrüchten haben und einige der wichtigsten vegetarischen Kulturen der Welt auf Erbsen, Bohnen und Linsen basieren? Technologie wird einen Platz haben, aber lassen Sie uns nicht das offensichtlichste Merkmal unserer Ernährungsgeschichte übersehen: Viele Probleme haben wir bereits gelöst.

Die Ursachen für den Rückgang der Artenvielfalt sind komplex, der Handlungsbedarf ist groß. Was können wir als Konsument:innen aktiv tun?

Nie in der Geschichte war es einfacher, dem globalen Lebensmittelsystem unterworfen zu sein – aufgrund von Wirtschaftskräften, globalisierten Lieferketten und Konzernen, die den Welthandel mit Saatgut dominieren. Und doch gab es nie eine bessere Zeit, um sich wieder mit lokalen Lebensmittelsystemen zu vernetzen. Mit meinem Handy kann ich mit Landwirt:innen, Käse- und Fleischproduzent:innen in Kontakt treten oder Produzent:innen unterstützen, die die Artenvielfalt in einem anderen Teil der Welt erhalten. Auf Bauernmärkten kommen Menschen seit jeher rund um Lebensmittel zusammen, daran können wir anknüpfen. Köch:innen spielen als Geschichtenerzähler:innen eine wichtige Rolle, indem sie ihren Gäst:innen bestimmte Zutaten näherbringen. Und wir alle können in unserer Gemeinde Teil einer Veränderung sein, wenn es um die Art und Weise geht, wie diese Lebensmittel für Schulen, Pflegeheime und Krankenhäuser gekauft werden.

Es ist also Optimismus angebracht?

Wir müssen optimistisch sein und Hoffnung haben, sonst geben wir auf. Deshalb ist die Geschichte so wichtig: In so kurzer Zeit ist so viel passiert, so vieles verloren gegangen, so viel von unserem Planeten wurde verändert. Ich denke, wenn wir diese Geschichte und ihre Folgen kennen, können wir handeln – und wir müssen handeln.

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