Kolumnen

No Filter: Sterne, die glänzen und blenden!

von Nina Mohimi


Foto: Nina Mohimi

Österreichs Gastronomielandschaft erlebt gerade ein aufregendes Ereignis: die (für Brancheninsider:innen wenig überraschende, weil lange diskutierte) Rückkehr des renommierten Guide Michelin fürs ganze Land steht anscheinend bevor. Damit wird der österreichischen Gastronomie wieder der rote Teppich – oder besser gesagt, der rote Guide – ausgerollt.
Aber auch wenn die heimischen Medien aktuell lieber darüber berichten, welche Beträge dafür ausgegeben werden, den Guide wieder nach Österreich zu holen und wie sich einige Herausgeber:innen darüber echauffieren (ob berechtigt oder nicht), möchte ich gerne etwas ganz anderes zur Diskussion stellen.
Denn die glänzende Fassade dieser glanzvollen Auszeichnung (stellvertretend für viele Restaurantführer übrigens) birgt auch ihre Schattenseiten – weiterentwickelt hat sich dort über die Jahre nämlich nicht sehr viel. 

Das Comeback und die Auswirkungen

Statt bisher nur Wien und Salzburg haben bei der Rückkehr der Guide Michelin Restaurants im ganzen Land die Chance auf den einen oder anderen Stern oder eine Listung unter Bib Gourmand für Restaurants mit einem ausgezeichneten Preis-Leistungs-Verhältnis. Österreichs kulinarische Szene, ohnehin schon ein Magnet für Gourmets, erfährt durch die Wiederkehr des Guide Michelin zusätzliche internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung. Der Führer gilt als ein kraftvoller Motor für den Tourismus, insbesondere für jenen, der in der Luxuskategorie angesiedelt ist. Soweit so gut. 
Die kulinarische Exzellenz, die der Guide prämiert, hat allerdings ihren Preis. Hohe Erwartungen, enormer Druck und ein ständiger Perfektionsanspruch lasten auf den Schultern der Küchenchef:innen und ihres Personals. Einen Stern zu erlangen, ist eine Sache, ihn zu behalten, eine konstante Herausforderung, die oft auf Kosten des Wohlbefindens des Teams und manchmal auch der Gäst:innen.
Und hier beginnt eine Diskrepanz, die insbesondere in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion um Arbeitsbedingungen, Diversität und Nachhaltigkeit ins Auge springt. Der Michelin Guide prüft Küchen nach Kriterien, die sich vornehmlich auf den Teller konzentrieren. Doch wie steht es um die ethischen Kriterien, die sich hinter den Kulissen abspielen?
Das Thema Diversität in der Gastronomie ist ein breites Feld, welches in der Sterne-Vergabe keine Rolle spielt. Frauen, People of Color oder LGBTQ+ Menschen haben es in der von Männern dominierten kulinarischen Welt oft schwerer, sichtbar zu werden und Anerkennung zu finden. Ein Stern sollte nicht nur ein Symbol für exzellente Küche sein, sondern auch für exzellente Arbeitsbedingungen, Diversität und umweltfreundliche Praktiken.
Die nachhaltige Gastronomie, bis auf den kürzlich eingeführten „grünen Stern“, der sich noch dazu weitgehend inhaltslos und ohne transparente Kriterien zeigt, findet kaum Beachtung im Guide Michelin. Lokale, saisonale und biologische Produkte, eine nachhaltige Betriebsführung und ressourcenschonende Konzepte sind in der heutigen Zeit wesentlich, um eine verantwortungsvolle Gastronomiekultur zu fördern. All das ist weiterhin wenig bis gar nicht relevant für eine Auszeichnung. 
Des Weiteren bleibt die Frage, wie der Guide zur Wertschätzung einer positiven Arbeitskultur beiträgt? Burnout, Stress und eine hohe Fluktuation sind bekannte Probleme in der Gastronomie, insbesondere in der Haute Cuisine. Sollte nicht auch die Zufriedenheit und Gesundheit der Mitarbeiter:innen eine Rolle in der Bewertung spielen? Und ehrlicherweise nicht nur die der Mitarbeiter:innen. Auch die Eigentümer:innen und Küchenchef:innen darf man an dieser Stelle nicht vergessen. In der Gastronomie gibt es viele Menschen mit Suchtproblemen, Angststörungen, Insomnia und es gilt auch (besonders die Abend- & Nachtgastro) als nicht besonders Familienlebenkompatibel. Der Druck Auszeichnungen zu erhalten/behalten bringt eine zusätzliche Komponente hinein, die bereits bestehende Stressfaktoren nochmal steigern kann. 
Und was, wenn sich herausstellt, dass ausgezeichnete Köch:innen sich ihrem Personal gegenüber nicht korrekt verhalten haben oder gar straffällig wurden? Soll ein Chef, der einen Praktikanten vor den Gäst:innen ohrfeigt, weiterhin seinen Stern behalten dürfen? Sind wir 2023 noch immer nicht weiter, als alles ohne Konsequenzen durchgehen zu lassen? Eine Aberkennung wäre jedenfalls angebracht. 
Alleine um ein Zeichen zu setzen, dass Höchstleistungen 2023 nicht mehr auf Kosten der Mitarbeiter:innen gehen dürfen. 
Der Guide Michelin hat zweifelsohne eine beeindruckende Historie und einen Einfluss auf die internationale Gastronomie- und Tourismusbranche. Die Rückkehr bringt auch eine internationale Anerkennung für die österreichische Küche und Gastronomie. Die Branche, die in den letzten Jahren viel durchgemacht hat, erhält so eine Bühne und eine Projektionsfläche, die weltweit beachtet wird. Abgesehen davon, die Wertschätzung von Spitzenleistungen ist unerlässlich und fördert Innovation und Kreativität in der Branche und das kann auch den zukünftigen Nachwuchs in der Branche motivieren. 
Doch um in einer sich ständig verändernden Welt relevant zu bleiben, ist es notwendig, dass sich auch traditionelle Institutionen wandeln und an aktuelle gesellschaftliche, ökologische und ethische Anforderungen anpassen.
Die Relevanz des Guides könnte dadurch nicht nur erhalten, sondern sogar gesteigert werden, indem er sich als Vorreiter für eine zukunftsorientierte, nachhaltige und ethische Gastronomiekultur positioniert, die weit über die Grenzen des Tellerrands hinausblickt.
Es ist höchste Zeit, einen schärferen Blick auf die internationalen und nationalen Gastronomiebewertungen und Guides zu werfen. Die aktuelle Praxis der Bewertung – sei es in Sternen, Hauben oder Gabeln gemessen – verlangt nach einer rigiden Analyse und, mehr noch, einer radikalen Neubewertung ihrer Strukturen und Mechanismen. Das gastronomische Erlebnis muss mehr Dimensionen aufnehmen als bloß das Ergebnis auf dem Teller.
Es sind gerade die Guides, die das Luxussegment ins Visier nehmen, die hier eine Vorreiterrolle einnehmen müssen, die sich nicht scheuen dürfen, neue, umfassende Standards zu setzen und ein weitaus breiteres Verständnis von Exzellenz zu etablieren.
Dies ist ein kategorischer Appell an alle, die sich im Bereich der Hochgastronomie bewegen und beeinflussen. 
In diesem Sinne: Willkommen zurück, lieber Michelin Guide – deine Sterne leuchten zwar schön in der kulinarischen Nacht, aber vergiss nicht, auch mal nach Nachhaltigkeit, Diversität und gesunder Arbeitskultur zu suchen.

Diskutier mit mir unter instagram.com/ninamohimi oder nina@popchop.at 

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