Produktion, Zukunft

Schnitzel aus dem Reaktor

von Hanna Stummer
Generiert mit Midjourney

Wie es um kultiviertes Fleisch in Europa steht

Wer nicht gerade unter einem Stein lebt, wird in den letzten Monaten Schlagzeilen zum Thema „kultiviertes Fleisch“ mitbekommen haben – sei es die behördliche Zulassung zweier US-Unternehmen und der Einführung ihrer Produkte in ausgewählten Restaurants oder die Entscheidung der italienischen Regierung unter der Führung der rechtspopulistischen Fratelli d’Italia, Fleisch aus dem Labor gänzlich zu verbieten, um die nationale Esskultur zu bewahren. Das Thema ist im Mainstream angekommen, Investmentrunden in Millionenhöhe sind keine Seltenheit mehr, und die Erwartungshaltung der Klimaaktivist:innen, Tierschützer:innen und Food-Liebhaber:innen ist groß. Doch wie realistisch sind die hohen Ambitionen der mittlerweile über 100 Firmen weltweit, und wie bald können wir in Europa mit kultiviertem Fleisch im Supermarkt rechnen?

Wie man von der Kuh zum Burger kommt und sie dabei lebendig lässt

„Cultivated meat“ ist der Name, der sich in letzter Zeit im Gegensatz zu „labmeat“ oder „cellmeat“ durchgesetzt hat – teils wegen der besseren Übersetzbarkeit in mehrere Sprachen, aber bestimmt auch, weil sich Nahrungsmittel, die klingen, als wären sie aus einem Science-Fiction-Film, einfach schlechter verkaufen. Menschen wollen bei ihrem Essen an sensorisch ansprechende Dinge denken, nicht an Ärzt:innen in Laborkitteln. Der Prozess ist gar nicht so bahnbrechend neu, wie manche denken mögen, und kommt aus der regenerativen Medizin – wo für Forschung über Transplantationen von menschlichen Körperteilen anfangs mit Tierzellen experimentiert wurde. Von der Möglichkeit, Fleisch außerhalb eines Tieres zu züchten, träumen Menschen zwar nicht seit Anbeginn der Zeiten, aber doch schon ziemlich lange, wohl zumindest seit es 1907 gelang, die ersten amphibischen Zellen unter Glas wachsen zu lassen.
Bei kultiviertem Fleisch werden – fast immer mittels einer Biopsie – Proben von Tieren entnommen. Davon werden einzelne Zelltypen isoliert und in einem Bioreaktor, einem Tank ähnlich jenen, die in Brauereien verwendet werden, in einer nährstoffreichen Flüssigkeit, einem sogenannten Medium, angesiedelt. Dieses Medium übernimmt im Prinzip dieselbe Funktion wie Blut in einem lebendigen Organismus und versorgt die Zellen mit Stoffen, die sie zum Wachsen benötigen – vor allem Zucker, Sauerstoff, Aminosäuren, Vitamine, Mineralien und Spurenelemente, aber auch Wachstumsfaktoren wie Hormone und andere Proteine. Nach einer Wachstumsphase von ca. zwei bis acht Wochen, je nach Fleischsorte, werden die Zellen geerntet und zu den finalen Produkten weiterverarbeitet.

Klimarettung auf Zellbasis

Dieser Prozess hat den Befürworter:innen von kultiviertem Fleisch zufolge eine Reihe von Vorteilen gegenüber der herkömmlichen Fleischindustrie. Zuallererst ist es nicht nötig, das Leben eines Tieres zu beenden, die Biopsien sind vielen Hersteller:innen zufolge wenig invasiv und weitestgehend schmerzfrei. Nicht nur für vegetarisch und vegan lebende Menschen sind die Standards in der heutigen industriellen Fleischproduktion ein ethisch schwer vertretbarer Punkt – dazu kommen oft auch horrende Arbeitsbedingungen für die Arbeiter:innen in Schlachthöfen. Von der moralischen Komponente abgesehen, trägt die Fleischindustrie zu einem erheblichen Teil zur Klimaerwärmung bei, unter anderem durch Treibhausgase, die durch den Produktionsprozess ausgestoßen werden. Studien zufolge kann kultiviertes Fleisch im Gegensatz zu ambitionierten Benchmarks der Fleischindustrie zu erheblichen Einsparungen beim CO2-Ausstoß von Rind- und Schweinefleischproduktion und vergleichbarem Ausstoß bei der Produktion von Hühnerfleisch führen. Darüber hinaus verschmutzt die Fleischindustrie Umwelt und Wasser, braucht enorm viel Land und beschleunigt die Abholzung des Regenwalds und den damit verbundenen Biodiversitätsverlust. Auch hier rechnen Befürworter:innen von kultiviertem Fleisch mit erheblichen Verbesserungen.
Außerdem sehen die Verfechter:innen von kultiviertem Fleisch große Potenziale für die Versorgungssicherheit. Viele Nationen der Welt können ihren Fleischbedarf nicht im eigenen Land decken und sind auf Importe angewiesen; ein Grund, warum Singapur an vorderster Front der Forschung und Investitionen steht. Darüber hinaus ist Fleisch aus dem Labor nicht anfällig für zoonotische Krankheiten, wie die Schweinepest, womit beispielsweise China in den letzten Jahren zu kämpfen hatte – auch dort wird viel in kultiviertes Fleisch investiert. Darüber hinaus kann kultiviertes Fleisch mit der Abwesenheit von Hormonen, Antibiotika und Steroiden punkten – ein häufiger Kritikpunkt an der modernen Fleischindustrie.
Fleischersatzprodukte sind bei uns heute in jedem Supermarktregal zu finden, und man könnte den Eindruck bekommen, immer mehr Menschen würden sich pflanzlich ernähren. Es wird allerdings prognostiziert, dass der weltweite Fleischkonsum in Zukunft noch weiter steigen wird – am allermeisten im globalen Süden, aber auch in den USA wird ein weiterer Anstieg von 9 Prozent bis 2030 erwartet.
Kultiviertes Fleisch scheint also in vielerlei Hinsicht eine ideale Möglichkeit, all diese Probleme anzugehen, ohne dass Menschen auf ihre gewohnten und gewünschten kulturellen Traditionen und Konsummuster verzichten müssen. Manche Studien gehen davon aus, dass bereits 2040 60 Prozent der globalen Fleischproduktion in Bioreaktoren gezüchtet werden. Good Meat, eines der Unternehmen, deren kultiviertes Hühnerfleischprodukt kürzlich in den USA zum Verkauf zugelassen wurde, plant eine Fabrik in den USA, in der bis zu 13.500 Tonnen Fleisch pro Jahr produziert werden sollen – und sie sind mit ihren Plänen nicht allein, andere kommen zum Beispiel von Believer Meats aus Israel.

So weit, so gut – aber gar nicht einfach

Man könnte also meinen, kultiviertes Fleisch würde binnen kürzester Zeit auf Restauranttellern und in Supermarktregalen zu finden sein. Tatsache ist: Die Technologie funktioniert, und wenn Tester:innen aus aller Welt Glauben geschenkt werden kann, schmeckt es auch. Es gibt allerdings eine große Hürde auf dem Weg – die Kosten. Denn Firmen, die zurzeit ihre Produkte verkaufen dürfen, verlieren bei jedem Stück Hühnerfleischprodukt, das über die Theke geht, Geld. Es wird davon ausgegangen, dass die derzeitigen Kosten sich auf ein 100- bis 10.000-Faches von herkömmlichem Fleisch belaufen. Allerdings geben diverse Unternehmen und Plattformen an, dass sie diese im Laufe der nächsten Jahre auf einen Bruchteil reduzieren können werden – das GFI Institut etwa behauptet, im Jahr 2030 die Preise für ein Kilogramm kultiviertes Fleisch auf 6,94 Euro senken zu können
Aber daran glauben einige Kritiker:innen nicht. Die ambitionierten Vorhersagen haken ihnen zufolge an beinahe allen Stellen, und die Komplexität der Prozesse werde massiv unterschätzt – das Problem liege vor allem in der Skalierbarkeit. Die Faktoren, an denen geschraubt werden könnten, sind das massiv kostentreibende Zell-Medium, die Bioreaktoren und die Zell-Effizienz.

Mittel zum Zweck

Die Industrie steht vor der enorm hohen finanziellen Hürde, ihre Produkte auf ein vergleichbares Preisniveau mit herkömmlich produziertem Fleisch zu bringen, denn auch wenn sie geschmacklich ankommen, werden 100-Dollar-Burger langfristig auch für die abenteuerlustigsten Esser:innen keine Option darstellen. Unternehmen experimentieren deswegen, abgesehen vom ständigen Versuch, den Produktionsprozess ökonomisch effizienter zu gestalten, mit mehreren Strategien. Eine vielversprechende ist jene, zu Beginn kein Produkt aus 100 Prozent Fleisch zu verkaufen – diese „blended products“ bestehen zum Teil aus pflanzlichen Bindemitteln. So können Kosten erheblich reduziert werden – diese Option ist vor allem für verarbeitete Fleischprodukte wie Burger und Nuggets sinnvoll. Andere Unternehmen wiederum konzentrieren sich auf kultiviertes tierisches Fett als Geschmacks- und Nährstoffträger. Eine weitere Strategie verfolgen etwa Firmen wie Wildtype, die Lachs für Sushi produzieren – ein Produkt, welches generell viel höhere Preise erzielt, die Einschätzungen zufolge in Zukunft, aufgrund zunehmender Überfischung, nur noch steigen werden.
Schlussendlich wird von vielen Unternehmen ein sehr wichtiger Punkt angesprochen: Der heutige Preis der Massenware Fleisch sei schlichtweg zu niedrig und spiegle die real einfließenden Kosten nicht wahrheitsgemäß wider. Die Subventionierung von Fleisch selbst sowie der dafür benötigten Futtermittel verringert den Endpreis massiv – manchen Ansichten zufolge wird die heutige Lieferkette für Fleisch nicht mehr lange im selben Ausmaß existieren können. Es gäbe etwa die Möglichkeit, zusätzliche Kosten auf Fleisch zu erheben, etwa im Sinne einer CO2-Ausgleichs- oder Umweltverschmutzungsabgabe. Natürlich liegen diese Dinge bei Regierungen und der Politik und sind weitestgehend Wunschdenken – jedoch sollten alle verfügbaren Optionen, den negativen Einfluss der Fleischindustrie auf Menschen, Tiere und Umwelt zu verringern, ausgelotet werden.

Der Stand in Europa

Ob kultiviertes Fleisch also in Zukunft der herkömmlichen Fleischindustrie gefährlich werden kann, wird sich weisen. Zum heutigen Zeitpunkt sind Interesse und Investments hoch – es liegt also daran, das Niveau zu halten und in dieser Zeit Fortschritte zu erzielen. Genau dieser Punkt wird in Europa teilweise kritisiert: Die EU falle im Rennen um die globale Vorreiterrolle zunehmend zurück. Die Union hat einen rigorosen und langwierigen Prozess der Zulassung für Nahrungsmittel, welcher für Unternehmen abschreckend wirken kann. Man geht dabei von mindestens 18 Monaten aus, und zum heutigen Zeitpunkt ist kein Ansuchen zur Zulassung in der EU bekannt. *
Nichtsdestotrotz tut sich auch am europäischen Festland etwas: 2022 existierten dort 17 Unternehmen im kultivierten Fleischsektor. Fünf produzieren in Deutschland, eines in der Schweiz. In Österreich produziert kein Unternehmen direkt kultiviertes Fleisch, allerdings sind zwei in das Bioprozess-Design involviert.
Unternehmen wie Gourmey aus Frankreich erhielten im Jahr 2022 48 Millionen Euro an Unterstützung, was unter anderem für die Produktionsstätte ihrer kultivierten Foie-Gras in Paris genützt werden soll. Die Niederlande, absolute Pioniere im Feld, investierten in 2022 60 Millionen Euro in die Erforschung und Ausbildung der zellulären Landwirtschaft – die bis dato größte öffentliche Investition überhaupt. Darüber hinaus erlaubten sie im Juli als erstes europäisches Land Verkostungen von kultiviertem Fleisch und Meeresfrüchten. Die niederländische Firma Meatable erhielt außerdem erst Anfang August weitere 35 Millionen Euro an Unterstützungen – 2024 sollen ihre Produkte in Singapur erhältlich sein. Eine der deutschen Firmen, Alife Foods, präsentierte 2022 den Prototyp für Schnitzel – aus kultiviertem Rindfleisch. In der Schweiz wurde das in der EU vermisste Ansuchen* auf regulatorische Zulassung vom israelischen Unternehmen Aleph Farms gestellt – in Kooperation mit der größten Supermarktkette des Landes Migros.
Es heißt also abwarten und eventuell in näherer Zukunft auf Nachbarländer ausweichen, um in den Genuss von Fleisch aus dem Reaktor zu kommen.

*Nachtrag 14.09.2023: Kurz nachdem das Printmagazin in Druck ging, ging erstmalig ein Antrag auf Zulassung für ein Erzeugnis aus zellbasiertem Fleisch bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) ein. Eine Tochterfirma des deutschen Unternehmens InFamily Foods, bekannt für ihre Bärchenwurst und die vegetarische Marke Billie Green, reichte den Antrag für einen hybriden Hotdog aus kultiviertem Schweinefleisch und pflanzlichen Zutaten ein.

Meilensteine der kultivierten Fleischindustrie

1932 – Winston Churchill sagt voraus, dass in den 1980ern Fleisch außerhalb von Tieren gezüchtet werden kann

1950er – Forscher Willem van Eelen hat die Idee für kultiviertes Fleisch (allerdings erhält er erst in den 90ern ein Patent auf das Konzept)

2001 – erster Proof-of-Concept für die NASA: ein (Gold)Fischfilet wird erfolgreich gezüchtet und von niemandem gegessen

2004 – Die Non-Profit-Organization New Harvest wird ins Leben gerufen. Sie widmet sich der Erforschung von zellulärer Landwirtschaft

2013 – Der erste kultivierte Hamburger der Welt wird in einer Live-Übertragung der Welt gezeigt. Er kostete bis dahin etwa 250.000€

2020/2021 – Singapur erteilt Good Meat Zulassung für sein kultiviertes Hühnerfleischprodukt

Mai 2022 – Kultiviertes Fleisch wird erstmal an Hawker-Ständen in Singapur verkauft

2023 – Die USA gibt grünes Licht für Hühnerfleischprodukte der Firmen Good Meat und Upside Foods

Juli 2023 ­– die Niederlande erlauben die Verkostung von kultiviertem Fleisch und Meeresfrüchten

Juli/August 2023 – In den USA werden kultivierte Hühnerfleischprodukte in ausgewählten Restaurants verkauft:
China Chilcano, Washington D.C. – von Chef Chef José Anrdés (Good Meat)
Bar Crenn, San Francisco ­– von Chef Dominique Crenn (Upside Foods)

*September 2023 – Erstmalig wird ein kultiviertes Fleischprodukt bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit eingereicht

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