Gesellschaft

„Für mich ist es wie
Schwammerlsuchen“

von Nina Mohimi

Lebensmittel aus Mülltonnen retten


Foto: Nina Mohimi

Was genau ist Dumpstern? 

Dumpstern bezeichnet das Durchsuchen von Mülltonnen von Supermärkten, mit dem Ziel, genießbare Lebensmittel zu finden. Menschen, die als „Mülltaucher:innen“ aktiv sind, tun das aus vielfältigen Gründen. Sie sehen darin nicht nur die Möglichkeit, einen Beitrag zur Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung zu leisten, sondern können sich damit auch einiges an Geld ersparen. Zugang zu den Müllräumen erhalten sie meistens recht einfach mithilfe eines Zentralschlüssels, den beispielsweise auch Post, Polizei usw. benützen. Eine Kopie kann man sich recht leicht besorgen.
Der Aktionismus des Dumpsterns birgt rechtliche Unsicherheiten und kann im schlimmsten Fall als Diebstahl betrachtet werden und zu juristischen Konsequenzen führen. Die rechtliche Lage ist komplex: Während das Abstellen von Müll auf öffentlichen Straßen bedeutet, dass man sein Eigentum daran aufgibt und es als herrenlos gilt, ist das bei Mülltonnen anders. Diese stehen im Besitz des öffentlichen oder privaten Containerbetreibers, und die Lebensmittel darin sind nicht herrenlos. Obwohl vereinzelt Anzeigen wegen Dumpsterns erstattet wurden, wurde in Österreich bislang niemand verurteilt. Möglicherweise auch deshalb, weil eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit für die Mengen an täglichem Lebensmittelmüll in einer Filiale keine Presseabteilung eines Supermarkts besonders erfreuen würde – lieber tauschen sie die Schlösser aus. 
Die Debatte ums Dumpstern zeigt die Spannungen zwischen gesellschaftlichem Engagement, ethischem Handeln und rechtlichen Rahmenbedingungen. Einheitliche Leitlinien und mögliche rechtliche Anpassungen könnten zur Klärung dieser Grauzone beitragen und die Aktivist:innen vor rechtlichen Unsicherheiten schützen.
Um mehr Einblick zu bekommen, besuche ich jemanden, der schon seit Jahren „Lebensmittel rettet“ (so bezeichnet es die Person) und werde spontan eingeladen, zu einem Müllraum-Besuch mitzukommen – spätabends, denn die Person will vermeiden, auf Personal zu treffen. 
Bevor es losgeht, können wir noch etwas plaudern. 

Was hat dich dazu inspiriert, mit dem „Dumpstern“ zu beginnen? Gab es einen speziellen Vorfall, der dich dazu motiviert hat?

Die Idee entstand, als ich zufällig bemerkte, dass die Tür eines Supermarkt-Müllraums offenstand. Trotz des starken Geruchs – es war ein heißer Tag – entschied ich mich, hineinzugehen. Dort fand ich eine Vielzahl an Lebensmitteln, die noch in sehr gutem Zustand waren. Dieser Vorfall hat mich dazu angeregt, öfters mal Müllräume von Supermärkten aufzusuchen.
Ich gehe inzwischen fast täglich los, um Lebensmittel zu retten.

Wie gelingt es dir seitdem, Zugang zu den Müllräumen zu erhalten – hast du keine Angst?

Ich besitze einen Zentralschlüssel für die Müllräume. Müll wird ja als Allgemeingut betrachtet. Solange man den Zutritt nicht gewaltsam erzwingt, liegt in der Regel keine strafbare Handlung vor. Außerdem gibt es einige Praktiken seitens der Supermärkte bei der Entsorgung von Waren, die sie sicherlich lieber nicht öffentlich machen möchten. Aus diesem Grund dokumentiere ich gelegentlich mit Fotos, was ich im Müll finde. Ein Beispiel dafür ist literweise Speiseöl in Flaschen, das offensichtlich nicht ordnungsgemäß entsorgt wurde. Solche Bilder helfen mir wahrscheinlich als Argument, falls ich jemals erwischt werde (lacht).

Wie wählst du die Lebensmittel aus, die du aus den Müllcontainern holst? Gibt es bestimmte Kriterien, die du dabei berücksichtigst?

Bei der Auswahl der Lebensmittel konzentriere ich mich darauf, was noch gut aussieht, und wähle zuerst, was ich persönlich benötige. Ich verfüge über einen geräumigen Kühl- und Gefrierschrank, was mir ermöglicht, alles schnell zu kühlen oder einzufrieren. 
Manchmal finde ich größere Mengen von bestimmten Lebensmitteln, wie zum Beispiel Butter. In solchen Fällen nehme ich das, was ich selber gebrauchen kann, und verarbeite den Rest direkt weiter. Ich lege beispielsweise sehr viel Gemüse und Obst ein, fermentiere es oder koche es ein, um es länger haltbar zu machen.
Was ich selbst nicht nutzen kann, stelle ich auf ein öffentliches Regal für meine Nachbar:innen. Diese Geste wird immer sehr geschätzt, und die Lebensmittel finden schnell neue Abnehmer:innen. Es ist ein äußerst befriedigendes Hobby. Man braucht halt Zeit.

Welche Arten von Lebensmitteln findest du normalerweise? Gibt es bestimmte Trends, die du beobachtet hast?

Ich finde in der Regel eine Fülle von Lebensmitteln. Ganz besonders oft entdecke ich Bananen, die eigentlich völlig in Ordnung sind, aber vielleicht ein paar braune Flecken haben, womit sie sich anscheinend nicht mehr so leicht verkaufen lassen – völlig absurd eigentlich. 
Manchmal finde ich ganze Säcke mit Kartoffeln, dann wieder viel saisonales Gemüse wie Spargel. 
Es ist wie Schwammerlsuchen oder auf einen Flohmarkt gehen. Ich weiß wirklich nie, was mich in der Tonne erwartet.
Manchmal gibt es auch grandiose Funde, wie zum Beispiel damals, als ich fast 15 Kilo sous-vide-gegarte Entenbrust oder tiefgefrorene Martinigansln rausgefischt habe. Und dann gibt es Zeiten, in denen ich große Mengen abgelaufener Gewürze finde. Gelegentlich finde ich auch noch warme Brathendln, sorgfältig verpackt, oder Eier, die im Karton eingeschlichtet sind. 
Es scheint fast so, als wären sich die Mitarbeiter:innen inzwischen bewusst, dass selbst wenn genießbare Lebensmittel entsorgt werden müssen, diese nicht einfach achtlos weggeworfen werden sollten, weil vielleicht noch jemand Interesse daran haben könnte. Ich mag diesen Gedanken. 
Mit der Zeit lernt man, welche Art von Inhalt in den verschiedenen Säcken steckt. Zum Beispiel lassen sich bei Feinkostsäcken oft gute Funde erwarten, wenn sie schwerer sind.
Es scheint aber auch so, als wären die Einkaufsabteilungen der Märkte angesichts von Inflation und steigenden Kosten vermehrt darum bemüht, ihre Einkäufe besser zu planen. Die Mengen haben sich in den letzten Jahren schon reduziert. Trotzdem merkt man weiterhin Fehlplanungen, wie beispielsweise übrig gebliebene Valentinstags-Promo-Boxen, die offenbar nicht verkauft werden konnten. Ich schätze diese Funde zwar, freue mich aber trotzdem, wenn besser geplant wird und generell weniger im Müll landet. 


Illustration: Katharina Anna Wieser

Welchen Platz im System hat deine Art, Lebensmittel zu retten?

Ich denke oft an die Supermärkte, die zu klein sind, um Lebensmittel von Organisationen wie der Tafel abholen zu lassen – für vier Brotlaibe kommt halt keiner vorbei, das zahlt sich nicht aus. 
Und selbst bei sinnvollen Aktionen wie Minus 50 Prozent ab 17 Uhr oder Too Good To Go bleibt immer etwas übrig. Das lässt sich nicht ganz vermeiden. Die Verantwortung liegt ja nicht nur im Handel, was sollen die Angestellten denn beispielsweise machen, wenn in einem Sackerl mit Kartoffeln eine schimmlig ist? Das dürfen sie nicht mehr regulär verkaufen oder spenden, auch wenn der Rest oft in einwandfreiem Zustand ist. Wir Lebensmittelretter:innen füllen hier eine Lücke, die bisher auf andere Weise nicht geschlossen werden konnte.

Wie stellst du sicher, dass die geretteten Lebensmittel noch haltbar und sicher sind? Hast du jemals Bedenken wegen der Hygiene oder der Qualität der Lebensmittel gehabt, die du aus Müllcontainern holst?

(Lacht) In meinem Kühlschrank ist eigentlich alles abgelaufen. Wenn ich Lebensmittel finde, die vor dem Mindesthaltbarkeitsdatum weggeworfen wurden, lasse ich sie oft drin oder schaue online nach, ob es Rückrufe oder Warnungen gibt. 
Ansonsten funktioniert die Methode „Kosten und riechen“ sehr gut. Ich habe im Laufe der Zeit Erfahrungswerte gesammelt, was noch bedenkenlos aufgebraucht werden kann und was nicht. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist manchmal wirklich absurd und selten relevant. 


Illustration: Katharina Anna Wieser

Wie reagieren Menschen in deinem Umfeld auf deine Entscheidung, Lebensmittel aus Müllcontainern zu retten? Gibt es Vorurteile oder Missverständnisse, mit denen du konfrontiert wirst?

Die Reaktionen der Menschen in meinem Umfeld sind oft belustigt und überrascht. Immer mehr zeigen jedoch auch selbst Interesse, besonders angesichts steigender Lebensmittelpreise. Viele sehen darin keine große Sache, es geht ihnen nicht unbedingt um eine Ideologie, sondern eher um die Ersparnis.
Eine lustige Anekdote dazu: Meine Mutter wollte nie, dass ich meiner Oma davon erzähle, weil sie Angst hatte, dass meine Oma es ganz schrecklich finden würde. Dabei hatte ich es meiner Oma längst erzählt, und sie fand das alles eigentlich sehr vernünftig. Das ist sicher auch eine Generationensache.

Dann gehen wir los. 
Gegen 20.30 Uhr öffnet mein Guide den Müllraum mit einem Zentralschlüssel. Drinnen befinden sich zwei Mülltonnen und bestimmt hunderte Fruchtfliegen in diversen Größen. „Es ist recht heiß“ – ja, das riecht man deutlich. 
Was dann folgt, erinnert mich an eine sportliche Routine: Die Mülltonnen werden vorgerückt, die Deckel weit geöffnet. Mit einem großen Papier wird die Kante vom Müllcontainer abgedeckt, um nicht direkt damit in Kontakt zu kommen. Dann folgt ein souveräner Felgeaufschwung, bei dem sich die Person mit einem Fuß an der Wand abstützt, um besser balancieren zu können. 
Vorsichtig nähere ich mich dem Container und werfe einen Blick hinein – das Erste, was mir auffällt: Es sieht nicht aus wie meine nach dem Gespräch inzwischen romantisierte Version vom Inhalt einer Supermarkt-Mülltonne, sondern einfach nur wie Müll. Nicht besonders ansprechend. Ich fühle mich schlecht, weil ich privilegiert genug lebe, nie damit konfrontiert gewesen zu sein, meine Lebensmittel aus dem Müll zu holen, während es für viel zu viele Menschen eine alltägliche Lebensrealität ist. 
Auf den zweiten Blick sehe ich: Bananen. Richtig viele und alle noch optisch perfekt. Wollte ich Banana Bread machen, müsste ich sie noch eine Woche stehen lassen, damit sie den optimalen Reifegrad erreichen. Mit geübtem Griff fischt die Person nach und nach allerlei Obst, Gemüse, Brotlaibe etc. heraus, indem sie sich immer wieder tief in den Container wippen lässt, ohne auch nur einmal die Balance zu verlieren. Eindrucksvoll. Haltungsnote: 10. 
„Das ist meine wichtigste Rückenübung, ich merke es sofort, wenn ich ein paar Tage nicht hier war.“ 


Illustration: Katharina Anna Wieser

Dann ziehen wir Bilanz. Eine ganze Obstkiste ist gefüllt mit Lebensmitteln – alles davon hätte ich aus einem regulären Regal bedenkenlos mitgenommen und gekauft. 
Der Eigenbedarf kommt in eine Tasche, der Rest ins Regal für die Nachbarschaft. Die werden dann auch gleich per Message mit Foto informiert, damit sie sehen, was es gibt. Perfekt organisiert. 
Was das Skurrilste ist, was jemals aufgetaucht ist, will ich noch zum Abschluss wissen. 
„Am selben Tag, als der Maskenskandal öffentlich wurde, hat diese Filiale anscheinend gleich sicherheitshalber ihren ganzen Bestand entsorgt – ich bin dann bis zum Ende der Pandemie damit ausgekommen.“

Hinweis: Um die Privatsphäre der beteiligten Person zu wahren, wurde das Interview sorgfältig anonymisiert. Aus diesem Grund konnten nur wenige Fotos gemacht werden, um weder den Standort noch den Supermarkt preiszugeben.

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